Das sich selbst gebärende Sehen

Dies ist möglich, indem Rabemann als Einzelner über sein Sehen hinaus ein immer weiteres Sehen immer weiterer Bilder auslöst - „einem Kern gleich, der in einer leeren Ebene keimt und sehr schnell zu einem Baum emporwachsen kann, der sehr schnell Äste, Zweige, Blätter, Früchte hervorbringt und dann weitere Kerne, weitere Bäume, weitere Äste, Zweige….“

So ist dem Künstler dieses Sehen zum einen ein (sowohl das Sehen, sein Werk und auch ihn selbst) Formendes und zum anderen auch ein (sowohl das Sehen, sein Werk und auch ihn selbst) zu Formendes, indem es in Veränderung bewirkende Wechselbeziehung mit dem Gesehenen, dem Sehenden und dem Sehvorgang selbst gerät:
„Nicht nur das Bild, sondern auch das Gesehene und der Sehende wie auch sein Sehen selbst werden durch den Vorgang des Sehens ständig neu geformt. So entwickelt das Sehen ständig sich weiter - und genau dies ist der Vorgang, an dem der Betrachter über das Bild Teil nehmen und Weiter-ent-wicklung haben kann“.

Die Rolle der Zeit in diesem Vorgang

So stehen - indem zum einen bereits Gesehenes Gesehenes formt und zum anderen Gesehenes bereits Gesehenes formt - Vergangenes und Gegenwärtiges in ständiger Wechselwirkung.

Und es wird auch die Wahrnehmung von Gegenwart und das Bewusstsein für das Tun und Handeln in der Gegenwart - zu dem ja auch das schöpferische Tun zählt - zu einem echten Spiegelpunkt des Seins, indem das Sehen und das durch dieses Sehen geprägte Sein wie auch das durch dieses Sehen „ausgelöste“ Sehen im Sinne eines zum gegenwärtigen Zeitpunkt „auswählbaren“ Sehen und dem aus diesem Potential gewählten Sehens in echter Beziehung zu seiner Zeitlichkeit tritt:

Das Sehen bleibt hier nicht mehr „Momentaufnehmer“ einer Situation - vielmehr zeigt sich hier das Potential zu Wachstum und Entwicklung, aber auch die Verfangenheit mit Vergänglichkeit - diese Kräfte entwickeln gerade im Sehen selbst ihre größte Kraft, denn erst über die Wahrnehmung und nur durch sie erschließt sich ja auch alles andere.

Über die Relativität der Form

Dies ist der ihm wesentlichste Hintergrund seines Betrebens, dem jeweils gegenwärtig für wahr (An)genommenen eine diesem Sehen möglichst entsprechende Form zu geben 1) - die Kunst gilt ihm dabei nur als ein - wenn auch sehr dienliches und sinnvolles - Mittel zum Zweck. („Die Kunst ist mir eine chymische Hochzeit der Formen und Farben auf dem Weg zum Ziel an sich“)

Rabemanns Thema "Weltsichten"

Die Zusammenhänge machen deutlich, warum Rabemann die inhaltliche Gliederung seiner hier präsentierten Text- und Bildsammlung zu Hintergründen und Parallelen seiner Kunst mit „Weltsichten“ benennt und warum er die Untergliederung als nahezu beliebige Einstiegspunkte in seine sehr komplexe Gedankenwelt sieht und warum er dazu folgendes sagt:

„Wenn ich ohnehin nicht alles ausdrücken kann, was da ist, und wenn die Wichtigkeit nicht in den Dingen selbst, sondern in der Art des Sehens auf diese liegt, dann ist es zum einen völlig egal, womit ich beginne und zum anderen auch, womit ich ende.
Deshalb ist nicht der Weg wichtig, sondern eben dieses Sehen und das sich daraus ergebende Gehen eines Weges. Dieses Sehen ist ein Vorbei-Sehen am Offensichtlichen hin zum Sehen und Darstellen des Hintergründigen, Ursprünglichen als Träger des einzig Wahren. Wichtig sind also weniger Wege und Ziele als eher eine Haltung des Sehens und des Gehens, durch welche man sieht das Ganze all der Wege und durch welche man gehend teilnimmt an diesem Ganzen, ohne noch in diesem weiter suchend nach Wegen und Zielen zu sein.“


und weiter:

“…Anders gesagt ist mein Weg der, weder auf diese oder diese Art Kunst zu machen oder anders zu machen oder nicht zu machen, sondern auch weder Künstler Seiender zu sein noch Nicht-Künstler Seiender zu sein - also weder festlegbar, noch nicht-festlegbar (welches meint: auch nicht festlegbar auf eine nicht-Festgelegtheit), sondern vor allem frei in einem wahren Sehen und im daraus folgerichtigen Gehen eines ebenso gesehenen wahren Weges zu sein.“

Diese Haltung ergab sich für Rabemann fast zwingend aus der Erfahrung des Werdens fast aller von ihm geschaffenen Werke als eine Formwerdung dessen, was er auf einer anderen Ebene als ein Ganzes bereits vorhanden „sieht“.

2) //

1) gemeint: Von diesem Moment aus sowohl in Bezug zur gegenwärtigem Wahrnehmung, als auch im Zusammenhang stehend mit bereits zuvor Gesehenem und aus diesem Sehen heraus zuvor Geschaffenem.
2) Dies ist übrigens eine Wahrnehmung, die auch andere Künstler ähnlich beschrieben haben. So spricht z.B. Michelangelo von einer „innen diktierenden Stimme“ und beschreibt demgemäß auch sein Tun wie folgt: „Ein wahrer Künstler hat keine Konzeption, d.h. er kann sich keine Gestalt vorstellen, die nicht bereits … vorhanden wäre“.
Im weiteren beschreibt er das Tun eines wahren Künstlers als ein „Befreiung“ dieser Gestalt, deren werkwerdende „Wahrnehmung“ sich „nur“ als das Sehen „einer Form im Formlosen“ bzw. das Sehen „einer Ordnung im Chaos“ vollzieht.
stuttgart/kuenstler/inhalt/kuenstler_das-sehen-formt-das-sehende_mehr.txt · Zuletzt geändert: 2017/05/29 18:46 von rabemann
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